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Helene Herrmann

Aus dem Bereich unseres Forschungsprojekts zur Geschichte der Germanistik möchte ich Ihnen im folgenden die Berliner Germanistin Helene Herrmann vorstellen. Herrmanns wissenschaftliche Arbeitsweise kann - mit einigen Einschränkungen - der ersten der drei von Frau Schabert skizzierten Arbeitsstrategien von Frauen zugeordnet werden, nämlich der Orientierung am Modell eines ‚männlich' codierten Arbeitsstils. Im Umkreis der Berliner Germanistik der Jahrhundertwende gelingt es Helene Herrmann, sich als Verfasserin von Monographien zu Goethe und Heine und mit Aufsätzen zu Fontane, Kleist, Shakespeare u.a. im wissenschaftlichen Feld zu etablieren. Dabei zeigen ihre Publikationen einige der typischen Züge des zeitgenössischen männlichen Wissenschaftsdiskurses: Herrmann nutzt z.B. das "wir" der männlichen Forschergemeinde. Ihre Forschungsarbeiten widmen sich klassischen und zeitgenössischen Autoren - aber nur in Ausnahmefällen Frauen. ‚Weiblich' codierte Forschungsthemen - hier wäre etwa an die von Ricarda Huch neu ‚entdeckte' Romantik oder an traditionell ‚weibliche' Genres wie die Briefliteratur zu denken - finden sich bei ihr nicht. Wenn sich Herrmann überhaupt mit Autorinnen beschäftigt, so geschieht dies im Rahmen von Rezensionen zeitgenössischer Lyrik: So nimmt sie beispielsweise in einem Artikel über "Neue Frauenlyrik" sowohl mit der grammatischen Form als auch mit der entsprechenden professionellen Arroganz die Position eines männlichen Kritikers ein, wenn sie ihn folgendermaßen beginnt: "Der Kritiker moderner Lyrik konstatiert seufzend, wenn ihm ein halb Dutzend Gedichtbücher durch die blätternden Finger gegangen, dass immer noch viele Dilettanten ihre Verse drucken lassen [...]." (i)

Doch ist diese männliche Selbststilisierung bei Herrmann nicht ungebrochen: Zahlreiche ihrer Aufsätze erscheinen in der Monatsschrift "Die Frau", die von der Frauenrechtlerin Helene Lange herausgegeben wurde und die als das Organ der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung angesehen werden kann.

Bevor ich dieser spannungsreichen Konstellation aus ‚männlichem' Arbeitsstil und ‚feministischer' Praxis weiter nachgehe, möchte ich einige biographische Daten zu Herrmann voranschicken:
Von ihrem Werdegang her gehört Herrmann zu der Pioniergeneration wissenschaftlich arbeitender Frauen: Sie erhielt schon vor der allgemeinen Immatrikulation von Frauen im Jahr 1908 eine universitäre Ausbildung. Nachdem sie sich in den von Helene Lange geleiteten "Gymnasialkursen für Frauen" auf das Abitur vorbereitet hatte, studierte sie ab 1898 deutsche Philologie und Kunstgeschichte in Berlin. 1904 schloss sie das Studium mit einer Promotion über Goethe bei dem renommierten Berliner Germanisten Erich Schmidt ab.

Unter den damaligen Bedingungen aber musste eine wissenschaftliche Karriere für eine Frau, die zudem auch noch Jüdin war, als utopisch angesehen werden. Obwohl also schon universitär ausgebildet, blieb Helene Herrmann als Wissenschaftlerin nur ein Platz am Rande der Universität: Sie arbeitete im Beruf als Lehrerin und unterrichtete u.a. einen Kreis von berufstätigen jungen Frauen in Literatur. Gudrun Harlan, eine Freundin von Nelly Sachs, besuchte ihren Unterricht:
"Sie [Helene Herrmann, A.T.] rezitierte die großen klassischen Dramen in der deutschen Übersetzung von Gundolf so mitreißend, dass die Zuhörerinnen sie intensiver erlebten als auf dem Theater, und sie legte ihnen Stefan Georges Dichtung und Persönlichkeit ans Herz." (ii)

Zugleich publizierte Herrmann aber nach der Promotion weiterhin wissenschaftliche Arbeiten, die von der männlichen wissenschaftlichen Gemeinschaft durchaus rezipiert wurden. Aus diesen Arbeiten möchte ich im folgenden ihren Aufsatz zu Fontane hervorheben. Der Aufsatz mit dem Titel "Theodor Fontanes "Effi Briest". Die Geschichte eines Romans" erschien 1912 in "Die Frau" und steht am Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fontanes Werk. (iii) In der Fontane-Forschung wird er als "erste Studie" (iv) zu "Effi Briest" geführt. Herrmann überträgt in ihm das philologische Verfahren auf einen zeitgenössischen Autor. Sie nimmt Einsicht in das Manuskript von "Effi Briest" und arbeitet den Entstehungsprozess des Romans heraus. Damit befindet sie sich im Einklang mit der zeitgenössischen Germanistik, in der die Philologie immer noch das bestimmende Paradigma darstellt, auch wenn sich die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise in den Arbeiten von Friedrich Gundolf u.a. schon ankündigt.

Für unsere Fragestellung ist besonders ihre Einleitung interessant, in der sie Fontanes Werk am Maßstab eines maskulinen Dichtertums im Sinne Stefan Georges misst. Hier kann Fontanes Relativismus und Skeptizismus nur abfallen. Gegenüber der ‚männlich' codierten Konzeption des Dichters wird der unheroische, ‚menschliche' Fontane in Herrmanns Darstellung immer stärker mit Attributen des ‚Weiblichen' ausgestattet: Sein Werk ist begrenzt, mit Liebe fürs Detail, ohne Sinn für Größe, Heroismus und Tragik, hingegen geprägt von Plauderei und Causerie. Fontane wird ihr hier unter der Hand zum ‚weiblichen' Autor. Herrmann entwickelt damit ein paternales Verhältnis zu dem ‚weiblich' codierten Gegenstand. Diese Konstellation von männlichem Forschergeist und weiblichem Arbeitsstoff ist, wie Walter Erhart gezeigt hat (v), typisch für das Selbstverständnis der zeitgenössischen Literaturwissenschaft. Dabei trifft Helene Herrmann mit ihrer Charakterisierung Fontanes durchaus wichtige Aspekte, die noch heute in der Forschung diskutiert werden. Sie erzielt diese Ergebnisse aber nicht auf dem Weg etwa einer ‚Einfühlung' in einen ‚weiblichen' Autor, einem Autor, der für ‚weibliche' Belange oder einen ‚anderen' Schreibstil einstände, sondern durch die Annahme einer ‚männlichen', kritischen Position. Dazu gehört auch, dass sie Bezüge zur Diskussion um die "Frauenfrage", die ja in den 90er Jahren die Rezeption von "Effi Briest" bestimmte, ganz unterlässt.

Dennoch erscheint der Artikel in einer Zeitschrift, die "Die Frau" heißt und sich den Belangen der Frauen widmet. Und er stammt von einer Autorin, der die Frauenbewegung das Studium überhaupt erst ermöglicht hat und die sich, soweit mir bekannt, durchaus mit deren Interessen identifiziert hat. Wie lässt sich diese Konstellation erklären?

Zum einen spielen hier sicherlich diskurs- und wissenschaftsspezifische Gründe eine Rolle: Solange Herrmann im Rahmen des zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurses rezipiert werden wollte, hatte sie seinen Spielregeln zumindest in gewissen Grenzen zu entsprechen. Auch hat sicherlich ihre wissenschaftliche Sozialisation an der renommierten Berliner Universität Einfluss auf ihre Positionierung als Wissenschaftlerin.

Zum anderen scheint mir hier auch eine spezifische Problematik innerhalb der zeitgenössischen Frauenbewegung aufzuscheinen, auf die ich zumindest kurz eingehen möchte. Betrachtet man die Debatte der deutschen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, so lässt sich eine Konkurrenz zwischen einem Egalitäts- und einem Differenzmodell der Geschlechter erkennen. Ersteres argumentiert von der Position der Gleichheit her und fordert gleiche Rechte und Pflichten für die Frauen. Die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm kann als gutes Beispiel für diese Position gelten. (vi)

Dagegen betont das Differenzmodell die Unterschiede zwischen Männern und Frauen und kommt dabei zu verschiedenen Ergebnissen. In bezug auf wissenschaftliche Leistungen von Frauen kann das Differenzmodell zur Forderung einer anderen, weiblichen Wissenschaft führen: Züge einer solchen Argumentation lassen sich beispielsweise bei Marianne Weber erkennen (vii). Das Differenzmodell kann aber die Frauen auch von der Wissenschaft ganz ausschließen, wie dies z.B. Lou Andreas-Salomé in ihren frühen Aufsätzen befürwortet. (viii)

Herrmanns Position, die sie allerdings nur in einem vereinzelten Aufsatz explizit macht, kann auf der Achse des Egalitätsmodells verortet werden. In diesem Aufsatz, der "Ein gefährliches Frauenvorrecht" betitelt ist und 1909, also ein Jahr nach der allgemeinen Immatrikulationsberechtigung für Frauen (in Preußen) erschienen ist, geht es um die Zulassung seminaristisch ausgebildeter Lehrerinnen zum Studium: Herrmann plädiert hier dafür, dass diese unzureichend ausgebildeten Frauen die gleiche Qualifikation - nämlich das Abitur - erwerben müssen und nicht über Sondergenehmigungen immatrikuliert werden sollen. Sie argumentiert folgendermaßen:
"Wir haben das erreicht, was uns als eins der wesentlichsten Ziele in langen Kämpfen vor Augen gewesen ist: die rechtliche Zulassung zu den höchsten Bildungsmitteln, die die Nation zu vergeben hat. Wir müssen das Ansehen der Universität, die diese Mittel hütet und austeilt, hochhalten und weit über alle Privatinteressen des Fortkommens stellen. Wir gehören jetzt dazu, wir befinden uns nicht mehr in Verteidigungsstellung. Wir haben uns, gleichviel, ob wir uns für die wissenschaftliche Laufbahn oder für rein praktische Berufe auf Grund wissenschaftlicher Ausbildung vorbereiten, zuerst und vor allen Dingen als deutsche akademische Bürgerinnen zu betrachten, als Angehörige der Gelehrtenrepublik und dann erst als Frauen, die ein besseres Fortkommen suchen. Die Sache der deutschen Wissenschaft, an der mitzuarbeiten wir uns das Recht erkämpft haben, darf durch uns in keinem Punkt eine Schädigung erfahren." (ix)

In Herrmanns Argumentation wird deutlich, dass es ihr an keiner Stelle um eine inhaltliche Neuorientierung von Wissenschaft, sondern um eine Teilhabe der Frauen - jetzt "akademische Bürgerinnen" - am bestehenden System, an der "Sache der deutschen Wissenschaft" geht.

Ihr wissenschaftlicher Arbeitsstil lässt sich demnach als Konsequenz einer bestimmten, vor allem konservativ-bürgerlichen Position der Frauenbewegung erkennen, die den Zugang zum Wissenschaftssystem eröffnen will, ohne es selbst zu verändern. Aus diesem Grund kann Herrmann zugleich das "wir" der Frauenbewegung und das "wir" der männlichen Forschergemeinschaft benutzen.

Alexandra Tischel


i Helene Herrmann: Neue Frauenlyrik. In: dies.: Feinheit der Sprache. Aufsätze zur Literatur aus den Jahren 1903-1937. Hrsg. und eingeleitet von Helga Bleckwenn. Flensburg 1999, S. 55-62, hier S. 55.

ii Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1992, S. 91.

iii Helene Herrmann: Theodor Fontanes "Effi Briest". Die Geschichte eines Romans. In: Die Frau 19 (1912), 543-554, 610-625, 677-694 (Wiederabdruck in: Schriftenreihe der Sektion "Schleswiger Land" der Theodor Fontane Gesellschaft 3/4 (1998).)

iv Daragh Downes: Effi Briest. Roman. In: Christian Grawe, Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart 2000, S. 633-651, hier S. 635.

v Vgl. Walter Erhart: Der Germanist, die Dichtung und die "nicht mehr zeugungsfähigen Mächte". Wissenschaftshistorische Anmerkungen zum paternalen Selbstwertgefühl der deutschen Literaturwissenschaft. In: Christian Begemann, David E. Wellbery (Hg.): Kunst - Zeugung - Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg i.Br. 2002, S. 353-379.

vi Vgl. z.B. die Debatte zwischen Lou Andreas-Salomé (dies.: Ketzereien gegen die moderne Frau. In: Die Zukunft 26 (1899), S. 237-240) und Hedwig Dohm (dies.: Reaktion in der Frauenbewegung. In: Die Zukunft 29 (1899), S. 279-291).

vii Vgl. Marianne Weber: Die Beteiligung der Frau an der Wissenschaft (1904). In: dies.: Frauenfragen und Frauengedanken. Gesammelte Aufsätze von Marianne Weber. Tübingen 1919, S. 1-9.

viii Vgl. Lou Andreas-Salomé: Der Mensch als Weib (1899). In: dies.: Die Erotik. Vier Aufsätze. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main, Berlin 1992, S. 7-44.

ix Helene Herrmann: Ein gefährliches Frauenvorrecht. In: Die Frau 16 (1908/09), S. 617-619, hier S. 617.

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