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Ringvorlesung "Lydia Wahlström"

Lydia Wahlström war die vierte Frau, die an einer schwedischen Universität promovierte. Als 80-Jährige resümiert sie in ihrem autobiografischen Erinnerungsbuch: "Akademische Studien haben - mehr als alles andere - dazu beigetragen, die Stellung der Frau zu verbessern ([D]e akademiska studierna mer än något annat bidragit att höja kvinnornas ställning)" (i). Nun haben wir gerade von Frau Schabert gehört: Die Frau hat im akademischen Imaginären keinen realen Ort. Lydia Wahlström hat sich ihr Leben lang bemüht, Strategien zur Verortung der Frau innerhalb der Akademie zu entwickeln.

Die Pfarrerstochter promoviert 1898 im Alter von 29 Jahren in Geschichte, vierzig Jahre später wird ihr der Professorentitel verliehen. Sie wird Rektorin eines Stockholmer Mädchengymnasiums, Präsidentin der Wahlrechtsbewegung für Frauen, gründete die Studentinnenvereinigung in Uppsala, veröffentlichte zahlreiche Schriften verschiedenster Art, insgesamt 38 Bücher und 95 Aufsätze. Sie begründet die christliche Studentenbewegung, ist Essayistin, Pädagogin, Mitglied der ästhetischen Vereinigung ihrer Universität, interessiert sich für Psychoanalyse und Literaturgeschichte. Schon früh hält sie Vorlesungen über die Konsequenzen der Nazi-Ideologie.

Wo ist der reale, wo der imaginäre Ort für eine solche Frau? Es wird kaum jemanden wundern, dass eine Figur wie Lydia Wahlström mehr als nur einen Ort einnimmt, was nicht spurlos am akademischen Realen und Imaginären vorbeigehen konnte. Sie bedient sich -dreist - an allen drei zuvor genannten Kategorien:
Ihre wissenschaftliche Karriere beginnt sie als ‚konventionelle Frau'. Zunächst wird sie die Schülerin eines Professors, für den sie heimlich schwärmt. Bald jedoch verabschiedet sie sich von den traditionell-weiblichen, zudienenden Aufgaben und beansprucht mit großer Selbstverständlichkeit Attribute wie intellektuelle Begabung und Anführertum für sich. Durch ihre profunden historischen Quellenstudien macht sie sich zum wissenschaftlichen Mann. Sie entwickelt selbstbewusst ein eigenes Genre innerhalb der Geschichtswissenschaft: die Populärhistorie. Mit den Händen in den Hosentaschen, im Mund eine Zigarette, arbeitet sie aber über weibliche Autoren, über und für die schwedische Frauenbewegung und engagiert sich für das allgemeine Wahlrecht.

In ihrer Tätigkeit als Lehrerin ist sie vor allem bemüht, die Schülerinnen zum kritischen Denken zu erziehen. Anstatt diskret "das von dem schöpferischen Genius entzündete Feuer in das verschleierte Tal des Lebens zu tragen" (ii) stiftet sie die Mädchen an, ihre weißen Abiturientinnenmützen öffentlich zu tragen, was damals den Männern vorbehalten war.

Am interessantesten ist Lydia Wahlströms Anteil an der dritten Kategorie, das Selbstverständnis als ‚anders'. Hier wäre zum einen ihr ungemein entspanntes Verhältnis zum akademischen Betrieb zu nennen, ihr dezidiertes, selbstständig entwickeltes Verständnis von Geschichtswissenschaft, und die unablässig von ihr geforderte Paarung von Leben und Wissenschaft.

Zu dieser Zeit verknüpft sich im studentischen Milieu Uppsalas das wissenschaftliche Selbstverständnis der Akademikerinnen mit der sexuellen Emanzipation. Lydia Wahlström entdeckt ihr Interesse an einer ebenso jungen wie bahnbrechenden Wissenschaft, der Psychoanalyse: mit ihrer Hilfe möchte sie ihre eigene Sexualität kartographieren. Häufig entsteht zwischen den Studentinnen etwas, das der Wahlströmforscher Greger Eman mit ‚feministischer Freundschaftsliebe' (iii) bezeichnet. So etwa die zwischen Lydia Wahlström und Klara Johanson, einer Literaturwissenschaftlerin ersten Ranges, die lebenslang für beide Frauen inspirierender Funke und tiefe emotionale Bindung bedeutet. Bei diesen Freundschaftslieben geht es nicht um das Kriterium ‚homo' oder ‚hetero', es geht um Ideale wie: "Kameradschaftssinn, gegenseitiges Wohlwollen, die uneigennützige Freude über den Fortschritt anderer und die Bereitschaft, diesen zu befördern und einander beizustehen." (iv) Dies erinnert an das Modell einer Schwesternschaft, denn - mit den Worten Lydia Wahlströms: "Der Umgang mit Kameradinnen muss in einer Universitätsstadt gewöhnlich das Familienleben ersetzen (Kamratumgänge [...] vid småstadsuniversiteten vanligen måste ersätta familjeliv)" (v).

Der Raum, der diese Liebesbeziehungen überhaupt Gestalt annehmen lässt, entsteht in Uppsala vornehmlich durch Lydia Wahlströms unermüdliches Engagement. Sie ermöglicht es, die wenigen verstreuten Studentinnen in diversen Frauenvereinigungen zu bündeln, um ihnen besseren Schutz gewährleisten zu können. Da die Gesellschaft eine solch starke Trennung von Mann und Frau vorsieht, und die Männer es aufgrund ihres Minderwertigkeitskomplexes scheuten, mit Frauen gemeinsame Sache zu machen, ist es nötig, zunächst solche Inseln zu bilden. Lydia Wahlström betont immer wieder, dass die Frauenklubs keineswegs als Konkurrenz, sondern als Ergänzung, als Vernetzungsinstrument gedacht sind. So knüpft sie enge Verbindungen zwischen der von ihr - übrigens im Hinterzimmer einer Konditorei - gegründeten Studentinnenvereinigung und dem ästhetischen Debattierklub, sowie den für das schwedische Universitätsleben typischen Nations-Verbänden.

Der Sinn dieser rein weiblichen Zusammenschlüsse ist es, Interessengemeinschaften zu gründen. Hier werden etwa Adressen von fortschrittlichen Ärzten ausgetauscht, die nicht jedes Leiden auf Überanstrengung wegen der unnatürlichen geistigen Beanspruchung zurückführen. Man liest gemeinsam, diskutiert. Die Mitglieder rezensieren gegenseitig ihre Bücher in der Presse, vermitteln einander Anstellungen, leisten wissenschaftliche Hilfestellungen. Die Kulturhistorikerin Sigrid Leijonhufvud wird von Lydia sogar ihr "wissenschaftliches Gewissen (»vetenskapliga samvete«)" (vi) genannt, das sie in Zeiten mangelnder Motivation zu beharrlicher und sorgfältiger Arbeit ermahnt. Häufig ergeben sich Wohngemeinschaften, da es für Frauen ungleich schwieriger war, ‚sittlich angemessen' zu wohnen; entweder bei Priesterwitwen, oder zusammen mit der besten Freundin - das war akzeptiert. Ein bedeutender realer Ort der frühen Akademikerinnen scheint also das behütete Heim zu sein, die gemeinsame Wohnung mit der schwesterlichen Lehrerin, der geistigen Geliebten, der mütterlichen Muse. Auffallend oft gestaltet sich dieser Wohnverbund nach eheähnlichen Rollenmustern: die praktisch Fürsorgende und der geistig Forschende. Als einen solchen Verbund beschreibt Lydia Wahlström die Freundinnen-Ehe zwischen ihrer früheren Geliebten Klara Johansson und Ellen Kleman. Dieser literarischen Kameradschaftsehe, die - wie auch andere dieser Art - von auffallender geistiger Fruchtbarkeit ist, entspringt ein Kind: die kommentierte, vierbändige Edition der Briefe Fredrika Bremers, der Mutter des schwedischen Romans und der schwedischen Frauenbewegung. Auch Lydia Wahlström ist, eingebettet in den Kreis ihrer Kameradinnen, äußerst produktiv: Sie veröffentlicht historische, biographische, frauenpolitische, religiöse und belletristische Texte. Wenn sie schreibt, steht sie gewissermaßen mit einem Fuß in der Universität, mit dem anderen im Witwensalon - und so spiegelt sich ihre liminale akademische Position in ihrem alternativen Schreiben. Beständig hatte sie sich geweigert, männliche Standard-Historiografie zu betreiben:
"...Ich lehnte das seltene Angebot ab, ein historisches Standardwerk zu schreiben, mein früheres Verlangen, ernsthaft Historikerin zu werden, war verschwunden. Die ‚Lust zu Fabulieren' hatte auch schon von mir Besitz ergriffen, Geschichte allein war mir auf Dauer doch etwas zu trocken, ich brauchte noch etwas anderes ([J]ag lät ett så sällsynt tillfälle att skriva ett standardverk [...] gå mig förbi, [...]jag hade inte längre [...] längtan kvar att bli historiker på allvar. Då hade för övrig »die Lust zum Fabulieren« redan komit över mig, [...] historien i längden blev mig för torr - man måste ha något annat också)" (vii). Gemeint ist mit dem ‚anderen' die schöne Literatur, die im Gegensatz zur verdörrten Wissenschaft für Fruchtbarkeit, Intimität und Erotik steht. Im kreativ-literarischen ‚Fabulieren' grenzt sie sich vom männlich geprägten Wissenschaftsdiskurs ab.

Lydia Wahlströms Ort war immer einer der Paradoxie, vielleicht auch der Schizophrenie. Ihr Balanceakt zwischen weiblicher Homosozialität und heterosozialem Universitätsleben wird deutlich wenn sie schreibt: "Eigentlich betrachte ich rein weibliche Zusammenschlüsse als Unding und tue mir außerdem schwer, mit meiner »männlichen« Gemütsart für weibliche Leistungen Respekt aufzubringen ([E]gentligen betraktade [jag] alltid enbart kvinnliga sammanslutningar som ett oting och dessutom hade svårt med mitt »manliga« kynne att få riktig respekt för kvinnliga prestationer)" (viii).

Mit ihrem ‚Sowohl als auch' lehnt sie sich gegen das konventionelle ‚Entweder oder' auf. Das gilt in sexueller Hinsicht - sie beschreibt sich selbst als androgyn und bisexuell - ebenso wie in beruflicher. Durch Vermeidung binärer Kategorien nehmen die frühen Uppsala-Akademikerinnen ihren männlichen Kollegen den Wind aus den Segeln: sie bezeichnen sich selbst nicht als Studentinnen, um der Wortklauberei "pfiffiger Juristen" (ix) zu entkommen; sie arbeiten in ‚männlich-wissenschaftlicher' Manier über lesbische Frauen des 19. Jahrhunderts. Interdisziplinär und undogmatisch tanzen sie durch die Fakultäten. Und wenn die Herren Professoren auf akademischen Festen um 22 Uhr den Rock ablegten, forderten sie die Frauen damit unmissverständlich auf, sich zu entfernen. Die Akademikerinnen verstanden das Signal auf ihre Art: nicht auf der Fete war ihr Ort, sondern in der Wissenschaft.

Miriam Kauko


i Wahlström, Trotsig och försagd, S. 118
ii Marianne Weber: "Die Beteiligung der Frau an der Wissenschaft" (1904), in: Dies.: Frauenfragen und Frauengedanken. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1919, S. 1-9, hier S. 6
iii Greger Eman: Nya himlar över en ny jord. Om Klara Johanson, Lydia Wahlström och den feministiska vänskapskärleken. Lund: Ellerströms, 1993.
iv Hilma Borelius in Idun - illustrerad tidning för kvinnan och hemmet anlässlich Lydia Wahlströms 50. Geburtstag (29.06.1919).
v Wahlström, Trotsig och försagd, S. 117.
vi Ebd., S. 169.
vii Ebd., S. 258.
viii Ebd., S. 169.
ix Ebd., S. 92.

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